Belastenden Perfektionismus erkennen und überwinden

Obsessiver Perfektionismus kann sehr belastend werden

20.12.2023 Von Ulrike Propach

Ferdinand, 26 Jahre, arbeitet als Konditor in einem angesagten Café in einer deutschen Kleinstadt. Der Geselle hatte wegen seiner früher nicht erkannten Legasthenie nur die Mittelschule besucht, obwohl er sehr klug ist. Die Gesellenprüfung bestand er auf den zweiten Anlauf, was ihm viele schlaflose Nächte verschaffte. Sein ganzer Stolz sind nun die Kunstwerke an Torten, die er für die Kundschaft und Hochzeitsgesellschaften in unendlichen Stunden schafft. Ferdinand gilt nach außen hin als gesellig, lebt aber für sich und trifft sich selten mit Frauen alleine, denn er hat Angst, nicht zu genügen. Eine Beziehung ist er noch nicht eingegangen. Im Urlaub fährt er nicht weg und geht alleine große Bergtouren mit Kletterstrecken, die ihn an die Grenzen seines großen Könnens bringen. Als er eines Tages bei einer Schneewanderung von einem frei fahrenden Skitourengeher umgefahren und dabei schwer verletzt wird, bricht seine kleine Welt in sich zusammen. Monatelang kann er nicht arbeiten gehen, bis die komplexen Brüche wieder verheilt sind. In dieser Zeit stürzt er in eine große Depression. Ein Arzt in der Reha-Klinik initiiert begleitend zur körperlichen Stärkung eine Psychotherapie, welche Ferdinand die Wurzeln seines Perfektionismus erkennen lässt.

Max Weber, Ernst Troeltsch und Werner Sombart benannten schon vor hundert Jahren hohe ethische Standards, gekoppelt mit ökonomischem Handeln sowie Rationalismus, als Treiber des europäischen und US-amerikanischen Fortschritts. Weite Teile des Handelns in Leistungsgesellschaften beruhen darauf, stets das Beste geben zu wollen und zugleich anerkannt sowie beliebt zu sein. Diese fordernden Grundüberzeugungen beruhen auf der protestantischen Ethik, die ein einwandfreies Leben fordert. Falsch verstanden oder einseitig ausgelegt kann sie einen Nährboden für Perfektionismus darstellen.

Merkmale von Perfektionismus

Perfektionismus beschreibt das übermäßige Streben nach Vollkommenheit und Perfektion, die von einer ständigen Sorge darum begleitet wird. Wenn Betroffene in ihrem Leben nie etwas als fertig oder zufriedenstellend ansehen können, kann dies ein Hinweis auf eine perfektionistische Haltung sein. Betroffene können beispielsweise nicht ohne dreifache Checks ihres Äußeren aus dem Haus gehen oder feilen mit hohem Zeiteinsatz immer wieder an einer Präsentation für die Arbeit oder die Schule. Perfektionismus ist eine Steigerungsform von Gewissenhaftigkeit und kann auch krankhafte Züge annehmen. Das Umfeld nimmt diese daraus resultierenden Handlungen teilweise auch als zwanghaft wahr. Diese Wahrnehmung ist zutreffend, denn Perfektionismus kann krankhaft werden und bei den Betroffenen Erschöpfungszustände und Depressionen auslösen.

Die Psychologin Christine Altstötter-Gleich, die an der Universität Koblenz-Landau zu Perfektionismus forscht, betont, dass Perfektionismus nicht insgesamt schädlich sein muss. Sie bezieht sich damit auf die Zweiteilung des Strebens nach Perfektion und der Vermeidung von Fehlern. „Das Streben danach, die Dinge besonders gutzumachen, das ist per se nichts Schlechtes. Ganz im Gegenteil sogar. Es ist ein zutiefst wichtiger Persönlichkeitszug, dass man erkennt, dass etwas nicht ganz in Ordnung ist und danach strebt, es besser zu machen“, betont die Psychologin. „Das Problem beim Perfektionismus ist viel mehr, wie man damit umgeht, wenn etwas nicht klappt.“

Definition Perfektionismus nach Nils Spitzer

Der Perfektionismus-Forscher Nils Spitzer definiert klinischen Perfektionismus so: „Er ist durch ein solches obsessives Moment definiert – belastender Perfektionismus entsteht, wenn unsere Ideale und Vorbilder nicht nur zu starr, sondern auch gebieterisch werden. Es ist eine Tyrannei hoher Maßstäbe, ein Exzellenzstreben, das durchdreht.“

Ursachen von Perfektionismus

Mögliche Ursachen von Perfektionismus können, je nach Persönlichkeit und Umfeld, folgende sein:

  • Zu Perfektionismus neigende Menschen sind oft sensibel und vielseitig talentiert, sie sind meist intrinsisch hoch motiviert und sehr engagiert.
  • Autoritäre Erziehung und ein strenges Elternhaus oder Umfeld fördern einen perfektionistischen Lebensstil.
  • Moralische Instanzen aus dem Elternhaus oder dem Umfeld (dies können sowohl kirchliche als auch weltanschaulich ausgerichtete Organisationen wie Parteien, Gewerkschaften oder Umweltorganisationen sein) prägen das Denken und Handeln, das selten kompromissbereit oder nachsichtig ist.
  • Starre Strukturen und Vorgaben aus der Kindheit oder dem jetzigen Umfeld lassen die Menschen funktionieren.
  • Jedoch kann auch eine anti-autoritäre Erziehung, auch später noch im Jugend- und Erwachsenenalter genau das Gegenteil auslösen. Die Betroffenen wollen ihrem Umfeld unbedingt gefallen und möchten nicht unangenehm auffallen.
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