Das Autogene Training

Beim autogenen Training wird der Entspannungszustand zunächst kognitiv herbeigeführt, indem der Übende sich innerlich verschiedene Formeln vorspricht. Der physiologische Hauptansatzpunkt des autogenen Trainings ist das vegetative Nervensystem. Es entfaltet seinen Effekt zunächst körperlich und sozusagen zeitlich verschoben auf der psychischen Ebene. Johannes Schultz sprach vom autogenen Training als "konzentrative Selbstentspannung". Diese Bezeichnung beschreibt das Verfahren am besten. Denn der Körper reagiert auf das, was der Mensch ihm mittels Konzentration sozusagen vorgibt.

Zustand selbst reproduzieren und kontrollieren können

Das autogene Training wurde von Johannes Schultz in den 1920er Jahren in seiner Auseinandersetzung mit der Hypnose entwickelt. Der deutsche Nervenarzt und Psychiater stellte fest, dass alle Versuchspersonen, die hypnotisiert worden waren, in ähnlicher Weise von einem „wohligen Gefühls der Ruhe, Geborgenheit, ihr Körper sich schwerer fühle, von einem eigentümlichen strömenden Wärmegefühl erfüllt sei“ sprachen. So beschreibt er es in dem 1932 erschienenen Buch „Das autogene Training, konzentrative Selbstentspannung: Versuch einer kritisch-praktischen Darstellung“.

Schultz ging davon aus, dass es jemandem, der fremdsuggestiv in diesen Zustand geführt werden könnte, auch selbstsuggestiv gelingen können müsste. Er ließ seine Patienten die Wirkung, die er erzielen wollte, als Formel innerlich schweigend sprechen. Damit sollten diese den hypnoiden Bewusstseinszustand selbstständig auslösen, um anders als in der Hypnose diesen Zustand jederzeit selbst reproduzieren und kontrollieren zu können.
Am Anfang wurde das autogene Training ausschließlich im psychotherapeutischen Zusammenhang eingesetzt. Seit den 1960er Jahren kommt es immer mehr auch im populärwissenschaftlichen Sektor zum Einsatz.

Therapeutenliste Entspannungsverfahren

Fallbeispiel: autogenes Training bei Depression

Melanie D. leidet seit einiger Zeit an Depressionen. Ihr dreijähriger Sohn kam bei einem tragischen Unfall ums Leben. Melanie H. fühlt sich noch schuldig, weil sie denkt, sie hätte den Unfall verhindern können. Auf Drängen ihres Mannes geht sie schließlich zu ihrem Hausarzt, der sie an einen Psychiater überweist. Der verschreibt ihr Antidepressiva und empfiehlt ihr außerdem eine Psychotherapeutin.

Die Psychotherapeutin arbeitet auch mit Entspannungsverfahren und leitet Melanie D. im autogenen Training an. Die 37-Jährige fühlt sich wohl mit den Übungen, der Entspannungszustand stellt sich relativ schnell ein. Schon bei der Wärmeübung, das ist die zweite Übung, empfindet sie endlich wieder Appetit. Ihr fällt es auch leicht, die Übungen regelmäßig zuhause durchzuführen. Melanie D. kommt durch das autogene Training mit ihren Gefühlen tiefer in Kontakt. Sie wendet das autogene Training auch immer dann an, wenn sie sich wieder besonders schlecht fühlt. Sie nutzt es dann sozusagen als Zäsur, um Gefühle der Niedergeschlagenheit zu durchbrechen. Nach dem Üben geht es ihr immer besser.

Nachdem sie mit dem Üben des autogenen Trainings so vertraut ist, dass sie den Entspannungszustand sehr schnell induzieren kann, entwickelt sie gemeinsam mit der Psychotherapeutin die Formel: „Ich bin klar, entschlossen und frei“. Diese Formel löst in ihr Selbstvertrauen, Vitalität und die Stimmung eines Neubeginns aus. Die Formel übt sie im Anschluss an das tägliche Training.

Die formelhafte Vorsatzbildung soll bei Depressionen grundsätzlich vorsichtig eingesetzt werden. Menschen, die unter einer ausgeprägten Symptomatik leiden, können sich sehr schnell überfordert fühlen, was die ohnehin schon vorhandenen Insuffizienzgefühle und auch eine Suizidalität verstärken kann. Sie könnten die Mittelstufe etwa so missverstehen, dass sie selbst einfach positiv denken müssten und alles wäre wieder gut. In diesem Fall war die Klientin aber stabil genug und hatte auch ausreichend Bezug zu sich selbst.*)

Wann hilft autogenes Training?

Der Einsatz von Entspannungsverfahren ist erst ab acht Jahren und dann in für Kinder modifizierter Form, meist eingebettet in einen spielerischen Kontext, möglich.

Indikationen (Heilanzeige)

Es ist angeraten:

  • als Selbstmanagement und Coping Skill
  • im Sport zur Leistungssteigerung

und bei:

  • somatischen Erkrankungen, die durch Stress getriggert werden
  • psychosomatischen und psychophysischen Erkrankungen
  • chronischem Schmerz
  • Schlafstörungen
  • leichter bis mittelgradiger Depression
  • Angststörungen
  • Schlafstörungen

Kontraindikationen – das autogene Training darf nicht angewendet werden bei:

  • Intelligenzminderung
  • akuten Psychosen, schweren Depressionen
  • posttraumatischer Belastungsstörung
  • akuten Schmerzzuständen

Wie läuft autogenes Training ab?

Grundübungen: Die Formeln

Die sechs Grundübungen des autogenen Trainings bestehen aus der Schwereübung, der Wärmeübung, der Atemübung, der Herzübung, der Bauchübung und der Stirnkühleübung. Daneben gibt es noch unterstützende und organspezifische Übungen wie die Ruheformel und eine zusätzliche Atemformel. Der Ablauf der Formeln findet im Training in etwa wie folgt statt:

  • Schwereformel: „Der rechte (linke) Arm ist ganz schwer“ (fünf bis sechs Mal)
  • Wärmeformel: „Der rechte (linke) Arm ist ganz warm“ (fünf bis sechs Mal)
  • Atemformel: „Atmung ruhig und regelmäßig“ (fünf bis sechs Mal)
  • Herzformel: „Das Herz schlägt ruhig und kräftig“ (fünf bis sechs Mal)
  • Bauchformel: „Bauch strömend warm“ (fünf bis sechs Mal)
  • Stirnkühleformel: „Stirn angenehm kühl“ (fünf bis sechs Mal)

Zwischen den einzelnen Übungen, die fünf bis sechs Mal innerlich gesprochen werden, wird je eine Ruheformel wie „Ruhe kehrt ein“ gesprochen.

Der konkrete Ablauf des Trainings und die einzelnen Formeln orientieren sich zunächst an den Vorgaben von Johannes Schultz, weil die sich seit vielen Jahrzehnten bewährt haben. Erst, wenn Störungen auftreten, erarbeiten Klient und Therapeut alternative Formeln oder Modifikationen.

  • Die Schwereformel bewirkt eine Entspannung der Willkürmuskulatur, die Wärmeformel eine Entspannung der Gefäßmuskulatur, was zu einer Gefäßerweiterung führt.
  • Die Atemformel ermöglicht ein passives Erleben des Atemrhythmus, genauso wie die Herzformel dies für den Herzrhythmus tut.
  • Mittels der Bauchwärmeformel wird die Wärmeformel auf den gesamten Körper ausgeweitet und sie trägt dazu bei, die Bauchorgane zu regulieren. Der Körper erwärmt sich durch die Wärmeformel um insgesamt ein Grad.
  • Durch die Stirnkühleformel wird der Kopf als kühler empfunden. Tatsächlich sinkt die Temperatur im Kopf aber nur um etwa ein halbes Grad. Damit ist der Kopf zwar kühler als der Körper, aber insgesamt wärmer als vorher. Der Übende nimmt das so nicht wahr.

Die Stirnkühleübung ist im autogenen Training die einzige suggestive Übung. Denn nur während dieser Übung erlebt der Übende eine sozusagen Als-ob-Empfindung. Bei der Entwicklung der Stirnkühleübung orientierte sich Schultz an den kühlen Umschlägen, die den Patienten der Psychiatrie auf die Stirn gelegt wurden, während sie im warmen Wannenbad lagen. Denn echte Entspannung geht mit geistiger Wachheit einher, die es dem Übenden erlaubt, das Geschehen bewusst wahrzunehmen und zu steuern.

Die Übungen werden im Sitzen, entweder in der Lehnsessel- oder auch Droschkenkutscherhaltung oder im Liegen durchgeführt. In der Droschkenkutscherhaltung knickt der Übende etwas in der Lendenwirbelsäule ein, wobei er die Schultern senkrecht über der Sitzfläche belässt. Diese Haltung ermöglichte es den Droschkenkutschern früher fast mühelos stundenlang auf dem Kutschbock zu sitzen, um auf ihre Herrschaft zu warten.

Die Mittelstufe des medizinischen autogenen Trainings: Die formelhafte Vorsatzbildung

Die formelhafte Vorsatzbildung kommt dem posthypnotischen Auftrag (einem Befehl, der in Trance formuliert wurde und zum Menschen passen sollte) nahe und wird häufig verwendet, um positive Selbstbeeinflussungen zu fördern. Die Kurzformel der Vorsatzbildung wird der letzten Übung hintenangestellt und meist acht bis zwölf Wochen lang geübt, bevor wieder gemeinsam mit dem Therapeuten eine andere Formel entwickelt wird.

In gewisser Weise entspricht die formelhafte Vorsatzbildung der kognitiven Umstrukturierung, wie sie in der Verhaltenstherapie angewendet wird. Weil die individuelle Formel im Zustand tiefer Entspannung angewendet wird, kann sie den Übenden emotional sehr tief berühren. Nach einer gewissen Übungszeit, steigt die Formel wie von selbst auf, wenn sie benötigt wird.

Das autogene Training verlangt insgesamt eine bestimmte Übungszeit, um sich in einen tiefen Entspannungszustand zu versetzen. Es ist hilfreich, die Formeln das erste Mal mit Unterstützung eines Therapeuten zu entwickeln, um das Grundprinzip besser zu verinnerlichen. Außerdem ist es wichtig, somatische Marker zu verwenden, um zu spüren, ob eine Formel passt oder nicht. Ein somatischer Marker zeigt an, ob etwas, das man denkt, sich auch körperlich gut anfühlt.

Die Oberstufe des medizinischen autogenen Trainings

Schultz erkannte bald, dass das Autogene Training weiterführende psychotherapeutische Möglichkeiten in sich birgt. Die Oberstufe kann den Trainierenden auf den Weg zur Selbsterkenntnis und als ein Weg in die Meditation begleiten. Voraussetzung ist jedoch, dass der Trainer über eine psychotherapeutische Ausbildung verfügt, Schultz selbst setzte dafür eine gründliche psychoanalytische Schulung voraus.

Zur Person Johannes Schultz

Auch wenn sich die Technik des autogenen Trainings seit ihrer Entwicklung zu Beginn der 1920er Jahre als ein hochwirksames und weit verbreitet angewendetes Verfahren etabliert hat, möchten wir die höchst fragwürdige Rolle von Johannes H. Schulz in den Jahren des Nationalsozialismus in diesem Artikel nicht unerwähnt lassen.

Schultz machte in der Zeit des Nationalsozialismus als Arzt Karriere, obwohl er in erster Ehe mit einer Jüdin verheiratet war und daher nicht Mitglied der NSDAP sein durfte. Er sprach sich für die Euthanasie und gegen Homosexualität aus. So trug er mit seinen Gutachten wesentlich dazu bei, dass Homosexuelle, die er für nicht therapierbar hielt, ins Konzentrationslager kamen. Er sprach er sich in verschiedenen Publikationen klar für die Vernichtung „unwerten Lebens“ aus.