Vergebung kann heilsam sein

Erlittenes Unrecht verzeihen

20.10.2023 Von Angelika Völkel

Jemandem das Unrecht, das man durch ihn erlitten hat, zu verzeihen, ist selten selbstverständlich. Viele Menschen leiden bis an ihr Lebensende an Verletzungen, die ihnen andere zugefügt haben. Vor allem Liebespartner und Familien sind häufig die Menschen, die einen leiden lassen. Doch jeder kann im Grunde selbst entscheiden, wie lange er sein Leben von dem erlittenen Unrecht bestimmen lässt.

Viele Studien zeigen, dass Menschen, die anderen verzeihen und Fehler nachsehen können, zufriedener und psychisch gesünder sind.

Wenn Markus F. an seine Mutter denkt, dann erinnert er sich an Demütigungen, Verbote, an all die vielen Arbeiten, die er täglich verrichten musste, so dass er viel zu wenig Zeit hatte, genug für die Schule zu tun. Sein Vater trat kaum in Erscheinung. Während der Woche war er meistens beruflich unterwegs. An den Wochenenden verschwand er in irgendwelchen Kneipen. Sobald Markus F. konnte, verließ er sein Elternhaus. Obwohl er kein Abitur hatte, gelang es ihm, einen Platz an der Kunstakademie zu bekommen. Sein kreatives Schaffen half ihm, sich selbst in gewisser Weise das Überleben zu sichern. Um sein Leben wirklich zu genießen, fehlten ihm Stabilität und Sicherheit. Frauen kamen und gingen. Erst als er Stefanie kennenlernte, begann er zu begreifen, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Da ihm eine Beziehung zu ihr wichtiger war als alles andere in seinem Leben, suchte er sich professionelle Hilfe. Er fand einen Psychotherapeuten, zu dem er Vertrauen aufbauen konnte. Während der Psychotherapie konnte ein Prozess entstehen, der es Markus F. nach und nach ermöglichte, schließlich seiner Mutter all die ihm zugefügten Verletzungen zu verzeihen. Die reale Beziehung zu seiner Mutter hat sich dadurch nicht verändert. Aber er kann das erste Mal eine tiefere Bindung zu einer Frau aufbauen.

Verzeihen ist häufig ein schmerzhafter Prozess

Verzeihen bedeutet aber nicht, dass es sich dabei immer um einen einfachen Akt handeln muss. Sich intensiv mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen, ist dabei meistens wichtig und das kann durchaus schmerzhaft sein. Es kann deshalb eine große Unterstützung sein, wenn man sich bei diesem Prozess professionell von einem Psychotherapeuten oder Psychologischen Berater unterstützen lässt.

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Je schwerwiegender die Verletzung, die ein Mensch einem anderen zugefügt hat, desto größer können die Folgen sein. So ziehen sich viele Menschen nach einer traumatisierenden Verletzung meistens von ihrer Umwelt zurück. Bei Kindern kann das beispielsweise sogar so weit gehen, dass sie aufhören zu sprechen. Viele betroffene Erwachsene sinnen lebenslang auf Rache oder betäuben ihren Schmerz mit Alkohol oder Drogen. Eine unverarbeitete Kränkung kann auf Dauer krank machen, sowohl psychisch als auch körperlich.

Eine Langzeitstudie unter dem Titel „Scheidungsfolgen“, die die amerikanische Psychologin Judith Wallerstein über einen Zeitraum von 25 Jahren durchführte, zeigte beispielsweise, dass die Hälfte der Frauen und ein Drittel der Männer immer noch viele Jahre nach der Scheidung sehr wütend auf ihre früheren Partner waren.

Kränkungen machen auf Dauer krank. Der Psychologe Mathias Allemand von der Universität Zürich fand in seinen Studien mit älteren Menschen heraus, dass ältere Menschen, die ihre Kränkung auch nach Jahren nicht beiseitelegen können, stärker als andere an Depressionen leiden.

Verzeihen zu können tut Psyche und Körper gut

Dass es der Gesundheit zuträglich ist, verzeihen zu können, ist auch das Ergebnis einer Langzeitstudie, die die Virginia Commonwealth Universität und die Harvard University, beide in den USA, an Krankenschwestern im Alter von 43 bis 64 Jahren durchgeführt haben. Studienautorin Katelyn N.G. Long und ihre Kollegen Tyler J. VanderWeele und Ying Chen analysierten dafür Daten von 54.703 Teilnehmerinnen aus der Krankenschwestern-Gesundheitsstudie, die seit 1989 in den USA läuft und werteten erstmals eine Längsschnittstudie zu dieser Fragestellung aus, die die Entwicklung der Probandinnen über einen großen Zeitraum verfolgte.

Alle zwei Jahre werden die Probandinnen per Post oder online, zum Beispiel zu ihrem Gesundheitsverhalten, ihrer körperlichen Gesundheit oder zu ihrem psychosozialen Befinden befragt. Long und ihr Team werteten die Antworten zur spirituell motivierten Vergebung aus und suchten nach Zusammenhängen mit körperlichem und seelischem Befinden.

Das Ergebnis: Diejenigen, die verzeihen können, fühlen sich besser. Die Teilnehmerinnen, die anderen vergeben konnten, schilderten zum einen ein verbessertes psychosoziales Wohlbefinden und soziale Integration, also das Einfügen in ein gesellschaftliches Gefüge. Andererseits klagten sie seltener über psychische Probleme wie Angstzustände oder Depressionen.

Übrigens profitiert nicht nur die Psyche vom Verzeihen, sondern auch der Körper. Denn jemandem verzeihen zu können, verringert Stressreaktionen, was wiederum Immunsystem und Herz-Kreislauf-System schützt, wie Everett Worthington gemeinsam mit Kollegen in einer 2007 durchgeführten Studie belegen konnte.

Verzeihen ist auch für den Täter heilsam

Auch wenn die meisten, die Unrecht erlitten haben, nicht zuerst an das Wohlbefinden des Verursachers ihrer Kränkung denken mögen: Doch auch diesen Menschen tut es gut, wenn ihnen die gemachten Fehler verziehen werden. Zu diesem Ergebnis kamen die Psychologen Yu-Rim Lee (Konkuk University, Südkorea) und Robert Enright (University of Wisconsin) durch die Auswertung von 128 Studien mit 58.000 Proband:innen. Sie untersuchten, welchen Einfluss die Tatsache, ob uns jemand verzeiht oder ob wir uns selbst verzeihen, auf unsere körperliche Gesundheit hat. Dabei berücksichtigten sie Cholesterin, Stresshormone, Bluthochdruck, Autoimmunerkrankungen, Schmerzen und andere Faktoren. Ihr Fazit: Wer unter dem Druck steht, dass ihm nicht verziehen wird, muss mit gesundheitlichen Folgen rechnen. Auch wem vergeben wird, der lebt ruhiger und gesünder.