Die Progressive Muskelentspannung

Bewusster Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung

Die progressive Muskelentspannung basiert auf gezielter An- und Entspannung verschiedener Muskelpartien. Sie ist sinnvoll als Einstiegsverfahren für Menschen, die mit Entspannungsverfahren noch keine Erfahrung haben oder schnell eine wirksame Methode erlernen möchten. Als handlungsbasiertes Verfahren hilft sie auch Menschen, die unruhig sind und sich schlecht konzentrieren können. Sie unterstützt auch, wenn Aufmerksamkeit, Affekte und Antrieb stark gestört sind, etwa bei Kindern, die an der Aufmerksamkeitsstörung ADHS leiden. Das regelmäßige Training schult die Fokussierung, die Aufmerksamkeit wird höher, die Ablenkbarkeit niedriger. Sie ist auch das Entspannungsverfahren der Wahl, wenn jemand unter Ängsten und Zwängen leidet, denn der Betroffene wird dabei nicht so schnell mit seinen eigentlichen Gefühlen konfrontiert. Er kann sich sozusagen an dem An- und Entspannen der Muskulatur festhalten.

Mit progressiver Muskelentspannung Burnout abgewendet

Benjamin W. arbeitet fast Tag und Nacht. Er leitet ein kleines Team in einer Versicherungsgesellschaft. Er kommt abends spät nachhause, nimmt meistens noch Arbeit aus dem Büro mit und schläft nachts schwer ein. Der Hausarzt, von dem er sich Schlaftabletten verschreiben lassen wollte, empfiehlt ihm die progressive Muskelentspannung. Nachdem der 43-Jährige wieder wochenlang nicht richtig schlafen kann, ist er schließlich bereit, dieses Verfahren zu erlernen.

Benjamin W. ist beruflich sehr unzufrieden und weiß, dass er dringend eine Auszeit benötigt. Er zeigt Symptome eines Burnouts wie starke Anspannungszustände, Kopf- und Rückenschmerzen oder Ein- und Durchschlafschwierigkeiten. Er kann sich schlechter konzentrieren und hat insgesamt das Gefühl, von den Mitmenschen – beruflich und auch privat – ausgesaugt zu werden.
Mithilfe der progressiven Muskelentspannung kommt er überraschend schnell in einen tiefen Entspannungszustand. Er übt täglich mindestens einmal zuhause und wendet die Übungen auch im beruflichen Umfeld an.

Das häufige bewusste Loslassen bestimmter Muskelpartien – auf der Fahrt zur Arbeit beispielsweise Schulter oder Arme, in einem schwierigen beruflichen Kontext eher die Beinmuskulatur, um das Entspannungsverfahren sozusagen unbeobachtet ausüben zu können – hilft ihm in seinem Alltag.

Durch das regelmäßige Üben fühlt er sich insgesamt wohler. Sein Anspannungslevel wird deutlich niedriger. Mit seinem Chef kommt er eigentlich gut zurecht. Doch fühlt er sich von ihm häufig überfordert, weil der davon ausgeht, dass Benjamin W. sowieso immer alles gut erledigt. Schließlich schafft er es, mit seinem Chef zu sprechen und eine bessere Unterstützung für seine Aufgaben zu verhandeln. Außerdem will er nicht mehr so viele Aufgaben seiner Mitarbeiter übernehmen.

Je entspannter er wird, desto klarer wird ihm, dass er sich mehr um sich selbst kümmern muss. Statt um 20 Uhr verlässt er nun um 18 Uhr das Büro, trägt sich die Sporttermine in seinen Kalender ein und nimmt sie regelmäßig wahr. Er wird innerlich immer ruhiger und stellt sich nun die Frage, wie sein Leben weitergehen soll. Ruhe, Lebensfreude und die Zuversicht, beruflich das Richtige zu finden, scheinen wie von selbst einzukehren. *)

Wann hilft die progressive Muskelentspannung?

Für Jugendliche und Erwachsene dient die progressive Muskelentspannung als Selbstmanagement und Gesundheitsvorsorge.

Indikationen (Heilanzeige)

Bei den folgenden Störungen wird sie zur Behandlung eingesetzt:

  • Burnout
  • Posttraumatische Belastungsstörung
  • Angststörungen
  • Leichte und mittelschwere Depressionen
  • Sexuelle Funktionsstörungen
  • Chronische Schmerzen
  • Stress-getriggerte somatische Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Der Einsatz von Entspannungsmethoden ist erst ab acht Jahren möglich. Kinder können sie in angepasster Form, zumeist eingebettet in eine Geschichte oder einen spielerischen Kontext, besser erlernen.

Kontraindikationen

In diesen Fällen sollte die progressive Muskelentspannung nicht eingesetzt werden:

  • Intelligenzminderung
  • Akute Psychosen
  • Schwere Depression
  • Manie
  • Schwere Zwangsstörungen
  • Akute entzündliche Erkrankungen
  • Muskelerkrankungen
  • Schwere Erkrankungen des Bewegungsapparates

„Spannungsabbau ist keine psychiatrische Behandlung, sondern physiologische Selbststeuerung, bei der nicht der Psychiater, sondern der Patient die dominierende Rolle spielt“, schreibt Edmund Jacobson in dem Buch „You must relax“. Jacobson stellte fest, dass sich bei seelischen Stresszuständen auch die Muskulatur verkrampft.

Jacobson suchte nach einem Verfahren, die Anspannung zu lösen, und dadurch die Genesung der neurotischen Störung auf der körperlichen Ebene zu unterstützen. Er erkannte, dass im Wechsel zwischen Spannung und Entspannung verschiedener Muskeln der parasympathische Effekt der Entspannung der sympathikotonen bedingten Angstreaktion entgegenwirkt und versucht, sie aufzulösen. Ein Teil des vegetativen Nervensystems, der Parasympathikus, neutralisiert die stresserzeugende Wirkung des anderen Teils, des Sympathikus.

Die progressive Muskelentspannung führt zu einer fortschreitenden Reduktion der muskulären Anspannung. „Neurosen sind gleichzeitig physiologische Störungen, denn sie gehören in die Kategorie der spannungsbedingten Beschwerden“, erkannte Jacobson. Dieser Ansatz wurde seitdem durch zahlreiche Studien belegt. Sie alle zeigen, dass die Wirksamkeit bei psychischen Störungen größer ist als bei somatischen Störungen.

Therapeutenliste Entspannungsverfahren

Wie wird das Verfahren eingeübt und angewendet?

Die Form, die Jacobson ursprünglich entwickelte, umfasste mehr als 30 einzelne Übungen. Seine Patienten übten sogar eine einzige Muskelgruppe isoliert für mehrere Tage allein. Insgesamt bestand das Erlernen der Methode aus 56 Sitzungen. Die beiden Psychotherapeuten Douglas A. Bernstein und Thomas D. Borkovec reduzierten in den 1970er Jahren das Training zur besseren Anwendbarkeit auf 16 Muskelgruppen.

Die Übungen werden zunächst im Sitzen oder im Liegen erlernt. Da bei der progressiven Muskelentspannung im besonderen Maße ein Alltagstransfer angestrebt wird, sollen die Übungen so verinnerlicht werden, dass das Loslassen der Anspannung in jeder Lebenssituation möglich ist. Jede Übung wird drei Mal durchgeführt, beim Erlernen jeweils das erste Mal vom Therapeuten angeleitet, die beiden anderen Male vom Übenden eigenständig. Die Muskeln werden etwa fünf bis sieben Sekunden lang angespannt, nur die Füße etwas kürzer. Beim Loslassen ist es wichtig, den Umschlagpunkt hin zur Entspannung wahrzunehmen und dem etwa 15 bis 30 Sekunden nachzuspüren. Denn die organismische Umschaltung wahrzunehmen und jederzeit selbst induzieren zu können, ist schließlich der eigentliche Zweck der Übungen. Das Verhältnis zwischen An- und Entspannung beträgt etwa eins zu drei.

In welcher Reihenfolge welche Muskelgruppen geübt werden, kann stark variieren. Das Prinzip der Progression, also dem Fortschreiten der Entspannung innerhalb des Muskels, der Muskelgruppen und des ganzen Körpers, bleibt aber immer gleich. Das Verfahren soll so in den Alltag integriert werden, dass die muskuläre Restspannung mehr und mehr gemindert wird.